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AVIVA-BERLIN.de 9/19/5784 - Beitrag vom 14.09.2019


Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge
Sharon Adler

Ausstellung im NS-Dokumentationszentrum München vom 30.05. bis 10.11.2019 und vom 18.12.2019 bis 29.03.2020 im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg. Der Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen. Ganz bewusst nimmt der der Titel Bezug auf den Satire-Roman "Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen" von Hugo Bettauer aus dem Jahr 1922 über die Vertreibung der Juden und Jüdinnen aus Wien. Über die Auseinandersetzung mit dem historischen Stoff hinaus stellt die Ausstellung den Bezug zu strukturellen Diskriminierungsmechanismen der Mehrheitsgesellschaft damals wie heute dar.




1922 entwarf Hugo Bettauer in seinem Satire-Roman Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen das dystopische Szenario einer vollständigen Vertreibung der Juden aus Wien. Die Schmiererei "Juden raus" in einer öffentlichen Toilette lieferte Anstoß und reale Vorlage für das Verfassen des Romans.
Bettauer, 1872 oder 1877 als Maximilian Hugo Betthauer als Sohn von Arnold (Samuel Aron) Betthauer aus Lemberg und dessen Ehefrau Anna geborene Wecker geboren, war das, was man getrost als Tausendsassa bezeichnen kann. Der Journalist, Herausgeber von Zeit- und Wochenschiften, Leiter des Lokalteils in der Redaktion der "Berliner Morgenpost", Drehbuchautor, Sozialdemokrat, Sexualreformer und Jude beschrieb in seinem Roman prophetisch eine Welt nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, eine "judenfreie" Welt, eine Welt, die er nach der Vertreibung der Juden literarisch dem wirtschaftlichen und kulturellen Verfall preisgibt.
Öffentliche Aufführungen der gleichnamigen (jedoch um einige Elemente abgeänderten) Verfilmung 1924 wurden von rechtsextremistischen Störaktionen begleitet, der Autor selbst im gleichen Jahr von einem Rechtsextremen erschossen. Der Prozess gegen seinen Mörder, ein arbeitsloser Zahntechniker, der noch 1977, Jahre später, keine Reue zeigte, gerierte zu einem Schauprozess, in dem gegen das tote Opfer gehetzt wurde. Die Ermordung wurde von weiten Teilen der Bevölkerung als "volksbefreiende Tag" bejubelt. Der Täter kam mit einer lächerlich geringen Strafe davon.

Bettauers Roman und dessen Verfilmung von 1924 ist Zeit-Zeugnis der ungeschönten und unbestechlichen Beobachtung der vielfältigen Formen von Antisemitismus in allen Gesellschaftsschichten und Medien, ob auf der Straße oder den Parlamenten. Obwohl fiktiv, ist er gespeist durch reale Begebenheiten und der allgegenwärtigen Judenfeindlichkeit.
Davon ausgehend zeigt Ausstellung und Katalog Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge anhand historischer und aktueller Beispiele, wie eine kontinuierlich durch Rassismen genährte Aushöhlung der Demokratie zum Ausgrenzung und Verfolgung einzelner Gruppen und zur Spaltung der Gesellschaft führen kann.
Der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung hat historische Essays und Dokumente über Reflexionen über die Gegenwart ergänzt. Die Erweiterung im Titel des vorliegenden Bandes bzw. der Ausstellung um "Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge" verweist im Wissen um die Verbrechen der Shoah auf die Realitäten heute und warnt damit auch vor einer Wiederholung der Geschichte.

21 Autorinnen und Autoren nähern sich aus unterschiedlichen Perspektiven aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit der Frage an, wie Ausgrenzung in großem Rahmen funktionieren konnte und kann und welche Folgen sie für die Einzelnen und die Gesellschaft bis heute hat.
Sie alle betonen in ihren Beiträgen die gesellschaftspolitische Brisanz und Aktualität, die Gefahr durch die rechtsnationalen Entwicklungen bis in jeden Bereich unserer Gesellschaft. Aufmerksam machen sie auf die Parallelen zur Kontinuität antisemitischer Stereotype und Feinbilder, den menschenverachtenden Slogans etwa "Deutschland den Deutschen" der Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), die zehn Menschen ermordet und Dutzende weitere verletzt und traumatisiert haben.

Beiträge von: Leora Auslander, Bettina Bannasch, Sabine Brantl, Michael Brenner, Burcu Dogramaci, Carl Hegemann, Andreas Heusler, Nermin Ismail, Uffa Jensen, Armin Loacker, Gerhard Milchram, Bernhard Purin, Doron Rabinovici, Julya Rabinowich, Frank Reuter, Stefanie Schüler-Springorum, Tanjev Schultz, Maximilian Strnad, Dietmar Süß, Natan Sznaider, Sonja Zekri und Moshe Zimmermann.

Ausstellung "Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge"

Vom 30. Mai bis 10. November 2019 zeigt das NS-Dokumentationszentrum München in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Augsburg Schwaben die Wechselausstellung "Die Stadt ohne. Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge". Vom 18. Dezember 2019 bis 29. März 2020 ist sie im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg, ebenfalls in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Augsburg Schwaben zu sehen.

Im Mittelpunkt der Ausstellung steht der Film "Die Stadt ohne Juden" von 1924 nach dem gleichnamigen Roman von Hugo Bettauer. Ausgehend von einzelnen Filmszenen zeichnet die Ausstellung die Stufen des Ausgrenzungsprozesses nach: von der Polarisierung der Gesellschaft bis hin zur endgültigen Vertreibung der als "Feinde" diskriminierten Menschen. Skizziert wird diese Entwicklung für die Zeit des Aufstiegs des Nationalsozialismus, als Antisemiten immer lauter den Ausschluss von Juden forderten. Im Film kehren die Juden in ihre Heimatstadt zurück – die historische Realität sah bekanntermaßen anders aus. Von der Fiktion Bettauers wendet sich die Ausstellung den faktischen historischen Auswirkungen der Judenverfolgung zu, die in die Shoah mündeten. Dass Polarisierung und Manipulation besonders über die Verbreitung visueller Botschaften funktioniert, zeigt die Ausstellung in vielfältigen Beispielen unterschiedlicher Propagandamechanismen. Den Prozess der Ausgrenzung visualisieren zum einen Exponate aus den 1920er-1940er Jahren wie Fotos und Dokumente, Wahlaufrufe der NSDAP, antisemitische Flugblätter und Symbole in zahlreichen Gegenständen des Alltags, darunter das antisemitische Brettspiel "Juden raus!" der Dresdner Firma Günther & Co. Der Aufdruck auf dem Spielbrett lautete: "Zeige Geschick im Würfelspiel, damit Du sammelst der Juden viel!".

Der Themenkomplex "Räume ohne", der diese "erfolgreiche" Vertreibung plastisch abbildet, ist die Wohnungsfotoserie von verlassenen Wohnungen in Wien aus dem Jahr 1938, aufgenommen vom Fotografen Robert Haas im Auftrag jüdischer Familien, die wenigstens diese als Erinnerung behalten wollten. Die Fotos zeigen Räume, aber keine Menschen, zu sehen sind Möbel, Bücher, Zimmerpflanzen. Die ehemaligen Zuhause, unfreiwillig verlassen und ohne Hoffnung auf die Rückkehr ihrer Bewohner und Bewohnerinnen. Die Namenslisten der deportierten jüdischen Menschen als Teil dieser Ausstellung dokumentieren das weitere Schicksal der Vertriebenen.

Zum anderen zeigt die Ausstellung exemplarisch auch die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, etwa über Wahlplakate der FDP aus dem Jahr 1949 ("Schlußstrich drunter!"), die deutlich machen, wie wenig man sich der Aufarbeitung der Verbrechen der Nationalsozialisten stellen wollte. Die Beispiele reichen bis in die Gegenwart hinein, so wird unter anderem auch der Propaganda-Aufkleber der anti-israelischen BDS abgebildet, die mit ihrem Aufruf zum Boykott israelischer Produkte ganz bewusst den Slogan der nationalsozialistischen Boykottaufrufe in den 1930er Jahren reproduziert.

Alle im Buch und der Ausstellung gezeigten Beispiele machen mit zahlreichen engagierten, sorgfältig recherchierten Beiträgen renommierter Autorinnen und Autoren sehr deutlich, wie Juden/Jüdinnen, Ausländer, Muslime/Muslima und Flüchtlinge heute ausgegrenzt und diskriminiert werden.

AVIVA-Tipp: Die Abbildung bzw. Ausstellung vielfältiger Beispiele von Dokumenten und Fotografien zeichnen die systematische Ausgrenzung, Vertreibung, Entrechtung bis zur Ermordung der Juden und Jüdinnen Europas akribisch nach.
Über das Original Die Stadt ohne Juden. Ein Roman von übermorgen hinaus stellt die Ausstellung und der gleichnamige Katalog einen klaren Bezug her zum von rechter Hetze, Antisemitismus, Antiziganismus, Islamfeindlichkeit und Ausländerhass bestimmtem Ist-Zustand im 21. Jahrhundert. Beklemmend und ungemein wichtig.

Die Stadt ohne
Juden Ausländer Muslime Flüchtlinge

Hrsg. von Andreas Brunner, Barbara Staudinger, Hannes Sulzenbacher und Mirjam Zadoff unter Mitarbeit von Ulla-Britta Vollhard
Hirmer, erschienen 2019
232 Seiten, 135 Abbildungen, 243 Filmstills, 21 x 27 cm, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-7774-3337-0
19,90 Euro

Mehr zum Buch unter: www.hirmerverlag.de
Mehr zur Ausstellung unter: www.ns-dokuzentrum-muenchen.de

Mehr Infos:

www.youtube.com (The City Without Jews/Die Stadt Ohne Juden – April 4, 2019 in NYC)

www.youtube.com (Filmrettung zu DIE STADT OHNE JUDEN, A 1924)

Weiterlesen:

Schön gesagt?, ein Beitrag auf HaGalil aus dem Jahr 2017 anlässlich der Rekonstruktion des Films als Langfassung.

Sensationeller Fund: DIE STADT OHNE JUDEN (1924) ein Beitrag auf Filmarchiv Austria aus dem Jahr 2016 anlässlich des Funds der bisher verloren geglaubten Passagen des österreichischen Stummfilms auf einem Pariser Flohmarkt.

Eine Biographie zu Hugo Bettauer auf AustriaWiki: austria-forum.org und auf IMDb www.imdb.com



Quellen: Hirmer Verlag, NS-Dokumentationszentrum München


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Beitrag vom 14.09.2019

Sharon Adler